Sahra und Oskar schätze ich sehr, und auch die NachDenkSeiten, insbesondere Albrecht Müller, leisten wertvolle Arbeit zur Aufklärung über den Neoliberalismus und die Manipulationsmethoden der Medien.

Einige wissenschaftliche Sachverhalte werden jedoch falsch wiedergegeben, sodass ich mich im Folgenden um Klarstellung bemühe und einige Sachfragen behandle und (davon unabhängig) anschließend eine politische Einschätzung vornehme. Aus Gründen der Übersichtlichkeit befinden sich die Zitate ganz am Ende dieses Beitrags.

Behauptung 1: Das RKI und Lauterbach widersprächen sich. (Oskar Lafontaine)

Richtig: Das Robert Koch-Institut und Karl Lauterbach widersprechen sich nicht, da sie nichts Gegensätzliches behaupten. Das RKI schreibt in der von Oskar Lafontaine verlinkten Broschüre, dass langfristige Nebenwirkungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden können, und Lauterbach weist darauf hin, dass es in der Regel jedoch keine langfristige Nebenwirkungen bei Impfungen gibt.

Natürlich gibt es in seltenen Fällen kurzfristige Nebenwirkungen, und auch langfristige Nebenwirkungen kann ein seriöser Wissenschaftler nicht grundsätzlich ausschließen. Eine Risikoabwägung mit einer realen Erkrankung auf der einen Seite und einem vernachlässigbaren Risiko auf der anderen Seite ergibt aber eine klare Impfempfehlung.

Behauptung 2: Bei den bekannten Spätfolgen des Dengue-Fiebers handele es sich um eine Nebenwirkung der Impfung. (Oskar Lafontaine)

Im engeren (medizinischen) Sinn handelt es sich beim vom Dengue-Virus ausgelösten ADE-Symptom (Antibody-Dependent Enhancement, d.h. eine Antikörper-bedingte Wirkungsverstärkung) nicht um eine Nebenwirkung (die zusätzlich zur Impf- bzw. Hauptwirkung eintritt), sondern um eine Verkehrung der Hauptwirkung. Beim Dengue-Virus gibt es verschiedene Virusstämme, und in einer bestimmten Konstellation kann eine Zweitinfektion schlimmer verlaufen als eine vorhergehende Erstinfektion (oder eben eine vorhergehende Impfung ohne Erkrankung in der Vergangenheit). Daher soll eine Impfung nach aktueller Empfehlung nur nach vorhergehender Erstinfektion erfolgen.

Natürlich ist eine solche Entwicklung – auch wenn sie keine Nebenwirkung im medizinischen Sinn darstellt – dennoch eine unerwünschte Folge. Auf die Vermeidung des ADE-Symptoms wurde jedoch bei der Entwicklung der Impfstoffe geachtet (vgl. unten zitierte Studie).

Wie oben bereits erläutert können ein theoretisches abstraktes Risiko unerwarteter langfristiger Nebenwirkungen oder andere nicht vorhergesehene Entwicklungen nie gänzlich ausgeschlossen werden. Eine vernünftige Risikoabwägung führt aber eindeutig zu einer Impfempfehlung, zumal die Impfstoffe bereits millionenfach verimpft wurden.

Bedenken sind menschlich verständlich, entbehren aber einer wissenschaftlichen Grundlage. Die Risiken durch Ungeimpfte sowohl für sich selbst als auch für andere überwiegen deutlich.

Behauptung 3: Long COVID sei umstritten. (Sahra Wagenknecht)

Die Existenz von Long COVID ist wissenschaftlich vollkommen unumstritten, siehe hierzu exemplarisch die unten zitierte Studie von Lixue Huang et al. sowie die dort referenzierten weiteren Studien („Matched COVID-19 survivors at 12 months had more problems with mobility, pain or discomfort, and anxiety or depression, and had more prevalent symptoms than did controls.“).

Hinsichtlich der Verbreitung und Symptomatik von Long COVID ist/war die Datenlage noch nicht eindeutig, was freilich der Neuartigkeit der Krankheit geschuldet ist, worauf auch in den Studien hingewiesen wird.

Eine Interpretation dahingehend, Long COVID sei umstritten, ist wissenschaftlich unzulässig.

Behauptung 4: Die Verantwortung der Ungeimpften für die steigenden Inzidenzen, sich füllende Krankenhäuser und zunehmende Sterbefälle sei nicht nachweisbar. (NachDenkSeiten)

Natürlich ist dies wissenschaftlich untermauert, und die von den NachDenkSeiten vorgenommene Interpretation der Daten ist unzulässig, worauf auch in der Quelle hingewiesen wurde („high risk of misinterpretation“, „The case rates in the vaccinated and unvaccinated populations are crude rates that do not take into account underlying statistical biases in the data.“, „These biases become more evident […]“). Leider ist es nicht das erste Mal, dass die NachDenkSeiten beim Thema Corona Daten so interpretieren, wie es ins eigene Konzept passt, in diesem Fall sogar gegen die ausdrückliche Warnung der Autor:inn:en.

Die Impfung verringert – auch wenn sie keinen Schutz zu 100 % bieten und auch eine Übertragung nicht gänzlich verhindern kann – den effektiven R-Wert, sodass im Umkehrschluss jede:r weitere Ungeimpfte statistisch zur Weiterverbreitung des Virus und zur möglichen Entstehung weiterer Virusvarianten beiträgt.

Politische Einschätzung

Der Glaubwürdigkeitsverlust der etablierten Medien (Mainstreammedien) ist der politökonomischen Entwicklung (insbesondere der Verstärkung der ungleichen Vermögensverteilung), dem Bekanntwerden der gängigen Manipulationsmethoden der Medien, der offenkundige Einseitigkeit in der internationalen Berichterstattung vor allem bei Konflikten und der Demokratisierung des Diskurses durch das Internet geschuldet. Dies darf aber nicht dazu führen, dass wissenschaftliche Sachverhalte nach Belieben uminterpretiert werden.

Es gibt viel berechtigte Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung und des Westens allgemein, etwa die vollkommen verspätete Reaktion anstatt frühzeitiger gezielter Lockdowns angesichts einer exponentiellen Verbreitung bei einer nicht immunisierten Bevölkerung (wie China dies erfolgreich praktiziert hat), das Verschlafen der Entwicklung durch das RKI und die Bundesregierung (z. B. die verspätete Einführung der Maskenpflicht), die aus offenkundigen Profitmotiven fortgesetzte Verweigerung der Freigabe der Impfpatente durch die reichen Länder (sogar gegen den Vorschlag der USA) etc.

Mit der Unterschätzung der Gefahr der Corona-Pandemie schaden sich die alternativen Medien mittel- und langfristig selbst. Wenn man sich zu wissenschaftlichen Fragen der Corona-Pandemie derart exponiert äußert, sollte man zumindest den mathematischen Stoff der Mittelstufe wie exponentielles Wachstum beherrschen.

Alexander Unzicker fand die richtigen Worte:

Es ist nur schade, wenn sie sich in der jetzigen Ausnahmesituation durch ihr Weltbild, alles Böse komme von oben, weiter disqualifizieren. Denn wenn man eines Tages die Lehren aus Corona zieht – etwa die elementare Daseinsvorsorge dem System der kurzfristigen Profite zu entziehen, werden Stimmen gebraucht werden, die der neoliberalen Ideologie Paroli bieten. Dann könnte diesen Medien der Unsinn, den sie heute erzählen, auf die Füße fallen.

Alexander Unzicker, „Coronavirus: Das Versagen der alternativen Medien“, Artikel vom 02.04.2020 auf Telepolis (aufgerufen am 10.11.2021)

Zitate

Den Vogel schoss bei „Anne Will“ wieder einmal Karl Lauterbach ab. Für ihn gibt es keine Spätfolgen einer Impfung („Es ist noch nie passiert, dass eine Nebenwirkung erst sehr spät aufgetreten ist.“). Damit steht er im offiziellen Gegensatz zum RKI, in dessen „Impfbuch für alle“ es heißt: „Noch länger dauert die Beobachtung möglicher Spätfolgen. Denn natürlich kann man bei einer Impfung, die erst seit ein paar Monaten verabreicht wird, noch nicht wissen, ob und welche Spätfolgen nach ein paar Jahren auftauchen.“ (Seite 37). Ist das nicht peinlich? Deutschlands Covid-Papst, der das Ohr der Kanzlerin hat, und gleichzeitig in mehreren Talkshows sitzt, widerspricht vor einem Millionen-Publikum dem RKI?

Noch wirrer wurde es, als Lauterbach auf die bekannten Spätfolgen des Dengue-Fiebers hingewiesen wurde. Seine Antwort: „Das ist ein Unterschied, ob die Krankheit dann schwerer verläuft, wenn ich geimpft bin oder, äh, eine Nebenwirkung der Impfung. […] Bei Dengue war das etwas anders, aber das ist ja keine Nebenwirkung der Impfung, sondern das ist ein schwerer Verlauf bei Infektion nach Impfung, aber keine Nebenwirkung der Impfung.“ Ah so. Wenn du geimpft wirst und dadurch schwer erkrankst, ist das keine Folge der Impfung. Karl Lauterbach hat sich mit diesen hoch-wissenschaftlichen Ausführungen das Prädikat „Schwurbler des Tages“ (Jens Berger) redlich verdient.

Oskar Lafontaine, „Zunehmende Intoleranz und Denkverweigerung“, BEITRAG vom 04.11.2021 (aufgerufen am 10.11.2021)

Spätfolgen

Noch länger dauert die Beobachtung möglicher Spätfolgen. Denn natürlich kann man bei einer Impfung, die erst seit ein paar Monaten verabreicht wird, noch nicht wissen, ob und welche Spätfolgen nach ein paar Jahren auftauchen.

Die Erfahrungen mit vielen Impfstoffen über viele Jahre haben gezeigt, dass die meisten schädlichen Auswirkungen einer Impfung bereits kurze Zeit nach der Impfung auftreten. Aber es gibt auch Ausnahmen. So kann es beispielsweise nach einigen Impfungen, unter anderem gegen Grippe und HPV, in sehr seltenen Fällen zu einer Nervenerkrankung namens Guillain-Barré-Syndrom kommen.

Robert Koch-Institut / Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, DAS IMPFBUCH FÜR ALLE, 1. AUFLAGE, Berlin (Juni) 2021, S. 37 f. (aufgerufen am 10.11.2021)

Steps to reduce the risks of ADE from immunotherapies include the induction or delivery of high doses of potent neutralizing antibodies, rather than lower concentrations of non-neutralizing antibodies that would be more likely to cause ADE.

Lee, W.S., Wheatley, A.K., Kent, S.J. et al., „Antibody-dependent enhancement and SARS-CoV-2 vaccines and therapies“Nat Microbiol 5 (2020), 1185–1191 (AUFGERUFEN AM 10.11.2021)

Auch bei SARS und MERS wurde unter bestimmten Bedingungen in Tiermodellen eine Verstärkung der Infektion durch Antikörper beobachtet. Daher war das ein wichtiger Punkt, auf den bei der Entwicklung der Impfstoffe geachtet wurde.

Carsten Watzl, Beitrag auf Twitter vom 07.09.2021 (AUFGERUFEN AM 10.11.2021)

„Und Long COVID – sie wissen es, Herr Lauterbach – ist umstritten, ist bisher nicht wirklich untersucht.“

Sahra Wagenknecht, [Diskussionssendung] „Anne Will. Steigende Neuinfektionen, Sorge wegen Impfskepsis – Hilft oder schadet mehr Druck auf Ungeimpfte[?]“, ab Minute 32:27 (AUFGERUFEN AM 10.11.2021)

Findings

1276 COVID-19 survivors completed both visits. The median age of patients was 59·0 years (IQR 49·0–67·0) and 681 (53%) were men. The median follow-up time was 185·0 days (IQR 175·0–198·0) for the 6-month visit and 349·0 days (337·0–361·0) for the 12-month visit after symptom onset. The proportion of patients with at least one sequelae symptom decreased from 68% (831/1227) at 6 months to 49% (620/1272) at 12 months (p<0·0001). The proportion of patients with dyspnoea, characterised by mMRC score of 1 or more, slightly increased from 26% (313/1185) at 6-month visit to 30% (380/1271) at 12-month visit (p=0·014). Additionally, more patients had anxiety or depression at 12-month visit (26% [331/1271] at 12-month visit vs23% [274/1187] at 6-month visit; p=0·015). No significant difference on 6MWD was observed between 6 months and 12 months. 88% (422/479) of patients who were employed before COVID-19 had returned to their original work at 12 months. Compared with men, women had an odds ratio of 1·43 (95% CI 1·04–1·96) for fatigue or muscle weakness, 2·00 (1·48–2·69) for anxiety or depression, and 2·97 (1·50–5·88) for diffusion impairment. Matched COVID-19 survivors at 12 months had more problems with mobility, pain or discomfort, and anxiety or depression, and had more prevalent symptoms than did controls.

Lixue HUANG et al., „1-year outcomes in hospital survivors with COVID-19: a longitudinal cohort study“, The Lancet, Volume 398 (2021), Issue 10302, 747 – 758 (AUFGERUFEN AM 10.11.2021)

„Wir erleben gerade eben eine Pandemie der Ungeimpften und die ist massiv“. Mit diesen Worten läutete vor einer Woche Bundesgesundheitsminister Spahn die vierte Welle ein. Diese „Pandemie der Ungeimpften“ geistert seitdem durch Kommentare und Leitartikel. Dabei schwingt mehr oder weniger direkt stets mit, dass die Ungeimpften für die steigenden Inzidenzen, sich füllende Krankenhäuser und zunehmende Sterbefälle verantwortlich seien. Belegen lässt sich diese These jedoch nicht. Wenn man vor allem Ungeimpfte testet, kriegt man natürlich auch vor allem ungeimpfte Testpositive. Zahlen, die weiterhelfen würden, veröffentlicht das RKI nicht. Zahlen aus Großbritannien weisen hingegen in eine ganz andere Richtung: Dort infizieren sich Geimpfte häufiger mit dem Coronavirus als Ungeimpfte. Und es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass dies in Deutschland großartig anders ist.

Jens Berger, „Pandemie der Ungeimpften?“, Beitrag vom 10.11.2021 (AUFGERUFEN AM 10.11.2021)

Interpretation of data

These data should be considered in the context of vaccination status of the population groups shown in the rest of this report. The vaccination status of cases, inpatients and deaths is not the most appropriate method to assess vaccine effectiveness and there is a high risk of misinterpretation. Vaccine effectiveness has been formally estimated from a number of different sources and is described earlier in this report.

In the context of very high vaccine coverage in the population, even with a highly effective vaccine, it is expected that a large proportion of cases, hospitalisations and deaths would occur in vaccinated individuals, simply because a larger proportion of the population are vaccinated than unvaccinated and no vaccine is 100% effective. This is especially true because vaccination has been prioritised in individuals who are more susceptible or more at risk of severe disease. Individuals in risk groups may also be more at risk of hospitalisation or death due to non- COVID-19 causes, and thus may be hospitalised or die with COVID-19 rather than because of COVID-19.

The case rates in the vaccinated and unvaccinated populations are crude rates that do not take into account underlying statistical biases in the data. There are likely to be systematic differences in who chooses to be tested and the COVID risk of people who are vaccinated.

These biases become more evident as more people are vaccinated and the differences between the vaccinated and unvaccinated population become systematically different in ways that are not accounted for without undertaken formal analysis of vaccine effectiveness as is made clear.

UK Health Security Agency, COVID-19 vaccine surveillance report.
Week 42
, October 2021, S. 12